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25.4.2024 : 23:28 : +0200

 

Die Bedeutung des Boxeraufstandes für die russisch-japanischen Beziehungen

 


Der Boxeraufstand von 1900 brachte den russisch-japanischen Status Quo endgültig durcheinander.  Die Geheimbewegung der ‚Faustkämpfer für Rechtlichkeit und Eintracht’ (I-ho-ch’üan) -von Ausländern als Boxer ironisiert- wehrt sich gegen eine chinesische Öffnung nach Westen. Die Ursachen für den Machtzuwachs dieser Bewegung sind in dem immens gestiegene Einfluss fremder Mächte in China zu sehen, sowie in der gestiegenen Arbeitslosigkeit aufgrund der anlaufenden Industrialisierung, aber auch wegen des Importes westlicher Fertigprodukte und zuletzt in den westlichen Missionsgesellschaften in China. In überaus gewalttätigen Parolen predigten die Boxer den Kampf gegen die Ausländer.  Am 19. Juni 1900 wird der deutsche Gesandte Klemens von Ketteler ermordet und es beginnt die Belagerung des Gesandtschaftsviertels von Peking. Am 21. Juni verbündet sich die Kaiserinwitwe Tz’u-hsi mit den Boxern und billigt die Kriegserklärung Chinas an die Westmächte. Erst mit dem Eintreffen eines gemeinsamen Expeditionskorps der ausländischen Mächte (u.a. England, Frankreich, Russland, USA, Italien, Deutschland und Japan) kann die Belagerung am 14. August niedergeschlagen werden. Der Aufstand wird schließlich mit dem Boxerprotokoll vom 7. September 1901 beendet, worin China eine hohe Kriegsentschädigung auferlegt wurde sowie ein Verbot der Waffeneinfuhr, die Aufstellung von Sühnegesandtschaften, und die Untersagung fremdenfeindlicher Aktionen. 


Einen besonderen Stellenwert nimmt die Rebellion der Boxer in der Mandschurei ein. Im Unterschied zu ähnlichen Ereignissen in Nordchina war hier der Status der ökonomischen Interessen ein anderer. Die europäischen Intentionen in der Mandschurei waren mit Ausnahme des ‚offenen’ Hafens von Newchang rein russischer Natur. Die größte Bedeutung hatte der fortgeschrittenen Bau der Chinesischen Ostbahn (Harbin-Dalny-Port Arthur)  . Weitere russische Anliegen waren die Geschäfte der Russisch-Chinesischen Bank –die zutiefst mit der CER verknüpft war- in Harbin, Kirin, Newchang und Mukden, die Erschließung der Kohlevorkommen in Yentai und Wu-fand-yang durch die CER und der Schiffsverkehr auf dem Sungari Fluss. Die hohe Zahl an Betroffenen –rund 1.500 russische Zivilisten und 4.500 Eisenbahnwachen- machten den Boxeraufstand zu einem gravierenden Problem für die Russen.  Das russische Vorgehen war schnell und umfassend, sie okkupierten das gesamte mandschurische Gebiet einschließlich der Hauptstadt Mukden und Teile der Mongolei. Nach der Niederschlagung des Aufstandes gab es differierende Meinungen über das weitere Vorgehen. Den Militärs, allen voran Kuropatkin, wäre die Annexion wenigstens der Nordmandschurei am liebsten gewesen als einzige dauerhafte Garantie der russischen Interessen und Staatsbürger in China.  Aufgrund der wirtschaftlichen Kontakte und der wachsenden Kosten der Besetzung vertrat Witte eine entgegengesetzte Position des Rückzuges aus der Mandschurei. Dennoch beließ Russland seine Truppen in den besetzten Teilen der Mandschurei, während die anderen Mächte Anfang 1901 begannen ihre Expeditionsstreitkräfte aus China abzuziehen.


In Japan war diese dauerhafte Besetzung ein Katalysator für die Angst, Russland würde sich von der Mandschurei aus nach Korea ausdehnen. Der wachsende russische Einfluss in Korea in Form der russischen Yalu-Holzgesellschaft verschärfte die russisch-japanischen Gegensätze nur noch.  In Nachahmung der britischen Ostindien-Gesellschaft sollte die Forstgesellschaft die russische Durchdringung Koreas vorantreiben. Der damalige russische Botschafter in Tokio gibt ein realistisches Bild in seinen Memoiren:

„Die Absurdität dieses Planes, der behauptet, ein Land wie Rußland mit nahezu unberührten europäischen und asiatischen Forstgebieten in einem Umfang von zwei Millionen Quadratmeilen benötige um jeden Preis von Kosaken und Erdwerken zu verteidigende Forstkonzessionen in Korea, war zu eindeutig, als daß sie nicht in der Vorstellung der Japaner die unerschütterliche Meinung erweckt hätte, daß wir einen bewaffneten Angriff gegen japanische Interessen in Korea planten.“


Die japanischen Führer -wie der Premierminister Katsura- waren überzeugt, dass die in den 1890er Jahren propagierte Politik eines Kompensationsgeschäftes ‚Mandschurei gegen Korea’ (Man-Kan kokan), also die japanische Anerkennung russischer Vorherrschaft in der Mandschurei und die russische Anerkennung der japanischen Führerrolle in Korea, nicht mehr durchführbar war. Die Beziehungen verschlechterten sich derart, dass ein Krieg nicht mehr ausgeschlossen schien.  Die japanischen Politiker gingen auf die Suche nach Verbündeten.

 

Die japanische Konvention mit Großbritannien

 


Es kam am 30. Januar 1902 zu einer Allianz zwischen London und Tokio. Nach 10 Monate langen Verhandlungen legte sie den Grund zur neuen Kräfte-Konstellation im Fernen Osten.  Großbritannien, dessen Beziehungen zu Deutschland während des Burenkrieges eine deutliche Verschlechterung erfahren hatten, suchte im asiatischen Bereich ein inhaltlich begrenztes, aber definitives Bündnisverhältnis zur Eindämmung seines russischen Rivalen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Strategieänderung britischer Seeherrschaft. Angesichts des internationalen Hochrüstens war der britische ‚two power standard’ zwar noch haltbar, sollte aber überdacht werden.  England musste vor allem den massiven Ausbau der russischen Flotte zwischen 1898 und 1901 zur Kenntnis nehmen.  In der Literatur wird zumeist auf die Gefahr der deutschen Flottenrüstung eingegangen und dies ist für die Zeit nach 1904 sicher korrekt, allerdings ging zumindest bis 1902 die größere Gefährdung für die Britische Marine, speziell im Fernen Osten, von Russlands und Frankreichs Flotte aus.


Wenn es Russland gelingen sollte, sich in China festzusetzen, so war es wie kein anderer Konkurrent in der Lage, die Regierung in Peking endgültig in seine Abhängigkeit zu bringen. Damit wäre der Einfluss aller anderen Mächte in dieser Region -allen voran Englands- geschrumpft. Russland hätte mit dieser gesicherten Position in China freie Bahn gehabt, seinen Druck auf die nordwestlichen Gebiete Britisch-Indiens sowie auf Kaschmir und Afghanistan weiter zu verstärken, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der spannungsgeladene Brennpunkt britisch-russischer Beziehungen.  Großbritannien brauchte angesichts des gefährlichen russischen Expansionismus kein festes Bündnis in Europa einzugehen, um seine Seemachtstellung zu behaupten. Ein Bündnis mit Japan schien ideal, wobei auch ein Abkommen mit Deutschland denkbar war. Beides bedeutete allerdings die endgültige Aufgabe der Ära der ‚Splendid Isolation’. Kolonialminister Joseph Chamberlain umriss die Lage in einem Memorandum für das Kabinett:


„Es liegt sowohl in China als auch anderswo in unserem Interesse, daß Deutschland den Russen entgegentritt. Ein Bündnis zwischen Deutschland und Rußland, welches die Beteiligung Frankreichs nach sich ziehen würde, ist das einzige, was wir fürchten müssen. Der Zusammenprall von deutschen und russischen Interessen, entweder in China oder in Kleinasien, wäre die beste Garantie für unsere Sicherheit. Ich hoffe, dass unsere Politik dann klar genug ist, um gute Beziehungen zwischen uns und Deutschland zu fördern, ebenso zwischen uns und Japan und den Vereinigten Staaten. Wir sollten uns darum bemühen, sowohl den Bruch zwischen Deutschland und Rußland, als auch denjenigen zwischen Rußland und Japan zu vertiefen.“


Zur selben Zeit als die Verhandlungen in London stattfanden, gab es auch japanische Gespräche mit St. Petersburg für ein alternatives Bündnis. Diese Beratungen wurden von den Japanern auch als Druckmittel in London gebraucht. Für Japan stand fest, dass Russland aus Korea herausgehalten werden muss, einerlei ob durch direkte Verträge mit Russland oder durch eine Allianz mit einer weiteren Großmacht.


Die Londoner Gespräche waren erfolgreich und am 30. Januar 1902 konnte ein britisch-japanisches Militärbündnis zum Schutz der beiderseitigen Interessen im Fernen Osten unterzeichnet werden. Der Kern war die Vereinbarung gegenseitiger ‚wohlwollender Neutralität’, wenn der jeweils andere Vertragspartner von einer einzelnen Macht angegriffen würde. Wurde der Bündnispartner jedoch von zwei Mächten angegriffen, so war ein Kriegseintritt des Verbündeten zwingend. Lord Selborne, der Erste Lord der Admiralität, fasste die Folgen in einem Memorandum zusammen: „Great Britain might engage herself to come to the assistance of Japan, if in a quarrel between Japan and Russia, France came to the assistance of Russia or vice versa.“  Neben der Eindämmungswirkung des russischen Expansionismus gewann Großbritannien einen Alliierten, der dem Zaren in einem potentiellen Krieg gegen Frankreich und Russland in den Rücken fallen konnte. Der Nutzen Japans ist offensichtlich: es hatte die Unterstützung gewonnen, die es zur Offensive in dem chinesischen Großraum benötigte. Darüber hinaus war es ihm als erstem fernöstlichen Staat gelungen zum gleichberechtigten Bündnispartner einer der damals führenden Mächte der Weltpolitik zu werden. Das Japanische Volk feierte das Zustandekommen der Allianz und es wurde erklärt: „We Japans, non-Christians, now co-operated with a civilised nation, and became the leader for maintenance of peace in the East.“  Der Volkswirtschaftler Amano Tameyuki sprach sogar davon, dass „the alliance is equivalent to the acquisition of the whole of China Proper as a new territory.“

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